Luthers Bibelübersetzung und ihre Wirkung

Luthers Bibelübersetzung und ihre Wirkung
Luthers Bibelübersetzung und ihre Wirkung
 
Was dem Vieh die Weide, den Menschen das Haus, den Vögeln das Nest, den Fischen der Fluss, den Igeln der Felsen, das ist die Heilige Schrift der gläubigen Seele.« Dass Luthers Bibelübersetzung zu einer sprach- und literaturgeschichtlichen Großtat wurde, verdankt sich der Sprachgewalt des Reformators, die freilich nicht auf literarischen Ehrgeiz aus war, sondern aus der Kraft des neuen Glaubens hervorwuchs und nur ihm dienen wollte. Die Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben (»sola fide«), Luthers religiöses Urerlebnis, ließ die Heilige Schrift zur einzigen Grundlage und zur höchsten Autorität in Glaubensfragen werden. »Allein aus dem Glauben« bedeutet auch »allein durch die Schrift«. Das Wort war Werk und Gegenwart des Erlösergottes. So war es folgerichtig, dass Luther, angeregt insbesondere von seinem Mitstreiter Melanchthon, den Entschluss fasste, die heiligen Texte ins Deutsche zu übertragen. Was ihm gelang, war geradezu eine Neuschöpfung des Bibelwortes, die alle vorherigen Übersetzungen - es gab bereits 18 hoch- und niederdeutsche Bibeldrucke - in den Schatten stellte. Die Bibel ist für alle da - was schon Erasmus von Rotterdam gefordert hatte, erhob Luther zur reformatorischen Grundmaxime. Die Bibelübersetzung wurde so zum wichtigsten Instrument im Kampf gegen die alte Kirche. Die Popularisierung des Bibelwortes widersetzte sich der exklusiven Autorität und gab der reformatorischen Bewegung ihren festen Halt.
 
Vor dem Zugriff der päpstlichen und kaiserlichen Gewalt von seinem Landesfürsten in Schutzhaft genommen, verbrachte Luther, als Junker Jörg getarnt, die Zeit vom Mai 1521 bis zum März 1522 auf der Wartburg. Gerade elf Wochen benötigte er, schon dies eine unerhörte Leistung, um die Übersetzung des Neuen Testaments zu bewältigen. Als Vorlagen dienten ihm die von Erasmus von Rotterdam besorgte Ausgabe des griechischen Urtextes mit lateinischen Übertragungen und Anmerkungen, ferner die altkirchliche lateinische Vulgata, wohl kaum deutsche Vorläufer. In einer Auflage von 3000 Exemplaren erschien im September 1522 das »Septembertestament«. Gleich 1522 nahm Luther auch die Übersetzung des Alten Testaments aus dem hebräischen Urtext und der Vulgata in Angriff. 1534 konnte die erste Vollbibel gedruckt werden: »Biblia / das ist / die gantze Heilige Schrifft Deudsch«, in der wittenbergischen Druckerei des Hans Lufft. Die Übersetzungsarbeit war damit keineswegs beendet. Ständige Revisionen wurden erforderlich, die Luther gemeinsam mit seinem gelehrten Wittenberger Beraterstab vornahm. Der Erfolg war durchschlagend. Bis zum Todesjahr Luthers 1546 zählt man 430 Gesamt- und Teilausgaben, mit über einer halben Million Exemplaren. Die Lutherbibel wurde das erfolgreichste deutsche Buch. Selbst katholische Übersetzungen wie die von Hieronymus Emser kamen an Luthers Text nicht vorbei.
 
Luthers Sprachgenie hatte ganze Arbeit geleistet. Rhetorisch gründlich geschult, schuf er eine Rhetorik des Herzens, einen deutschen »gemeinen Stil« (»sermo humilis«), der die erhabensten Glaubenswahrheiten in eine Sprache fasste, die dem »gemeinen Mann« unmittelbar zugänglich war und ihn ergriff. Denn nie verliert der Übersetzer, der »die meinung des text. .. klar vnd gewaltig verteutschen« will, den Gestus der Rede, der Predigt, der es darum zu tun ist, dass es »dringe und klinge ynns hertz, durch alle sinne«. Jede »buchstabilistische«, gelehrte Manier liegt ihm fern, ist ihm das Evangelium doch »eigentlich nicht das, das ynn büchern stehet und ynn buchstaben verfasst wird, sondern mehr eyn mundliche predig und lebendig wort, und ein stym, die da ynn die gantz wellt erschallet«, oder, wie es im Vorwort zum Neuen Testament heißt, »gute Botschaft / gute Mehre / gute Newezeitung / gut Geschrey / dauon man singet / saget vnd frölich ist«. Luther und seine Mitarbeiter scheuten deshalb keine Mühe, um sich mit den Schätzen der Volkssprache vertraut zu machen. Der »Sendbrief vom Dolmetschen« (1530) berichtet, dass man manchmal wochenlang nach dem treffenden Wort gesucht und gefragt habe. So will es auch die berühmte Anweisung: »man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, vnd den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, vnd darnach dolmetzschen, so verstehen sie es den, vnd mercken, das man Deutsch mit jn redet«. Nähe zum Volk bedeutet hier plastische Kraft, nicht Einebnung und Anpassung an den Massenjargon.
 
Bewusst greift Luther immer wieder zu sakral-sprachlichen Stilisierungen: »Es begab sich«, das »aber« an zweiter oder dritter Stelle im Satz, das stets im Singular gebrauchte »siehe«. Denn obenan steht die theologische Botschaft. So gehört zum rechten Dolmetschen »ein recht, frum, trew, vleissig, forchtsam, Christlich, geleret, erfarn, geübet hertz«. Luther scheut sich denn auch nicht, die reformatorische Markierung »»allein« durch den Glauben« in Römer 3,28 dem lateinischen und griechischen Wortlaut hinzuzufügen. Der Übersetzer lenkt seine Leser auch durch Vorreden, Randglossen und Illustrationen, die besonders in der Johannes-Apokalypse den Kampf gegen das Papsttum sinnfällig machen.
 
Luther war gleichermaßen Augen- und Ohrenmensch. Daher rühren die Bildkraft, die Rhythmik, der Wohlklang seiner Sprache. Sie meidet die Abstraktion, das Papierene und sucht den farbigen, markigen, sinnlichen Ausdruck. Sie beachtet Akzente, Haltepunkte und rhythmische Schlusswendungen, entwickelt ein Gespür selbst für Vokal- und Konsonantenfolgen. Sprichwörter sind ihr willkommen, und sie prägt selbst neue Beispiele, die in den Sprichwortschatz eingehen werden: »Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über«; »Wer Pech angreift, besudelt sich«; »Der Wind bläst, wo er will«. Viele Wendungen der Luther-Bibel bezeugen auch heute noch deren sprachschöpferische Kraft: Blutgeld, Ebenbild, Erdenkloß, Feuertaufe, Herzenslust, Judaslohn, Kleingläubige, Morgenland, lichterloh, Lästermäuler, wetterwendisch. »Was Luther vom Dichter unterscheidet«, meinte Ricarda Huch, »ist nur das, dass er niemals absichtlich gestaltet, es kam ihm nur auf Wahrheit, nie auf Schönheit an.« Gleichwohl übte der Literat wider Willen eine unermessliche Wirkung auf Literatur und Sprache aus.
 
Mit Genugtuung konnte Luther selbst im Blick auf seine Gegner erklären: »Das merckt man aber wol, das sie aus meinem dolmetschen und teutsch, lernen teutsch reden und schreiben.« In der Tat: das ganze zersplitterte Deutschland lernte diese Lektion. Dabei wird man unterscheiden müssen zwischen sprachgeschichtlicher und sprachschöpferisch-stilistischer Wirkung. Der Schöpfer oder Vater der einheitlichen neuhochdeutschen Sprache, wie man lange annahm, war Luther nicht. Er bündelte und beschleunigte Entwicklungen, die längst schon eingesetzt hatten. Anfangs nicht einheitlich und stark ans Thüringische gebunden, gewann Luthers Sprache dann zunehmend an Reichweite, trug sie entschieden zur Durchsetzung des Ostmitteldeutschen im Süden wie im Norden bei. Die kursächsische Kanzleisprache, an der sich Luther orientierte, hatte dem vorgearbeitet. Im Gegensatz zu seiner Theologie wirkte Luthers Sprache einigend.
 
Für solche Breitenwirkung sorgten nicht zuletzt die pädagogischen Maßnahmen der Reformatoren. Bibel und Katechismus prägten fortab den Schulunterricht. Tägliche Bibellektüre wurde üblich. Mit neun oder zehn Jahren schon sollte der Christenmensch das ganze Evangelium kennen. Und so geschah es, mindestens bis ins 18. Jahrhundert hinein. Auch die deutsche Literatur war fortan bibelfest. Bis hin zu Goethe dürfte es kaum einen bedeutenden Autor gegeben haben, der seine Luther-Bibel nicht im Kopf hatte und von ihrer Sprachkraft zehrte. Noch der abtrünnige Pastorensohn Nietzsche befand: »die Bibel war bisher das beste deutsche Buch. Gegen Luthers Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur »Literatur««.
 
Prof. Dr. Hans-Jürgen Schings
 
 
Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Beiträge von Wolfgang Beutin u. a. Stuttgart u. a. 51994.
 
Luthers Deutsch. Sprachliche Leistung und Wirkung, herausgegeben von Herbert Wolf. Frankfurt am Main u. a. 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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